Stefanie Reinsperger als Hurrican »Liliom« in der Inszenierung von Philipp Stölzl am Wiener Burgtheater
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Ist das Leben nicht schön?
Stefanie Reinsperger als Hurrican »Liliom« in der Inszenierung von Philipp Stölzl am Wiener Burgtheater
Von Eileen Heerdegen
Das Beste kommt zum Schluss: Ein kleiner Film am rechten unteren Eck der Bühne. Ausgelassen, vor Glück schreiende Menschen in einem Karussell, einem Wiener Ringelspiel. Leicht unscharfe, rasante Bilder mit seltsamen Farben, als habe man ein analoges Video oder gar einen Super-8-Film ausgegraben, es werden Faxen gemacht, es wird geschmust. Aber das ist nicht der legendäre Zeitraffer, der angeblich in der Todessekunde das Leben noch einmal abspult, nein, es ist schlimmer: So schön hätte es sein können.
Ich hätte mir diese Szene groß gewünscht, bühnenfüllend, als Mahnung. Liliom hingegen hat es schon wieder vergeigt. Die letzte Chance, aus der Schattenwelt heraus, seine unbekannte, mittlerweile fast erwachsene Tochter einmal zärtlich berühren zu dürfen, mit Sprach- und Hilflosigkeit zerstört.
Da können auch die schwarzgeflügelten Engel nicht helfen, die den Unglücklichen in der terrassenförmigen Naturlandschaft abholen. Wenn diese Aufführung von Ferenc Molnárs »Liliom« beginnt, ist die Titelfigur längst tot, hat in einer letzten (auto-)aggressiven Aufwallung alles verspielt.
Stefanie Reinsperger, in dieser Spielzeit an die Burg zurückgekehrt, spielt den Karussellausrufer, den ungehobelten Vorstadtcasanova Liliom mit einer wuchtigen Ambivalenz zwischen unbarmherzigem Hurrican und sanft kitzelndem Lüftchen. Sie brüllt wie ein wildes Tier und berührt mit tapsiger Zartheit, doch zunächst steht sie in Unterhemd und einer an früheren Glanz erinnernden eleganten Hose trotzig, ungläubig und verzweifelt ohne Erinnerung in der »Gstettn«.
Leben am Rand
Das Stück als Exit-Movie, einmal auf rewind gedrückt. Ein Fegefeuer, der ganze Mist noch einmal. Kurz nacherzählt: Andreas Zavoczki, genannt Liliom – charmanter, aber auch gewalttätiger Koberer fürs Fahrgeschäft, ursprünglich im Budapester Stadtwäldchen, seit der Übersetzung von Alfred Polgar (aktuell aber von Terézia Mora) im Wiener Prater –, verliebt sich in Dienstmädchen Julie, verliert daraufhin seine Stellung bei der eifersüchtigen Chefin, lässt sich später, als Julie ein Kind erwartet, auf einen dummen, dilettantischen Raubüberfall ein und ersticht sich schließlich selbst, um dem Ungeborenen die Schmach eines einsitzenden Vaters zu ersparen.
Das wirtschaftliche Elend, das die 1909 in der ungarischen Hauptstadt uraufgeführte Tragödie beschreibt, ist auch heute noch allgegenwärtig. Wer sich von den sündteuren Kaffeehäusern nicht blenden lässt, findet gleich am Budapester Stadtrand unbefestigte Sandstraßen, Tierheime, in denen Hunde und Katzen im Winter einfach zu Eis gefrieren, und Menschen ohne Arbeit. In Deutschland und Österreich wächst die Zahl derer, die am Rand leben, dort wo – wie das Bühnenbild (Philipp Stölzl und Franziska Harm) eindrucksvoll zeigt – selbst das anonyme Wohnen im schlichten Hochhaus Luxus ist, dort wo der Zug nach Nirgendwo vorbeibrettert, dort wo man die Lichter des Rummelplatzes nur von weitem erahnen kann.
Liliom schlägt Frauen, er schlägt auch Julie, weil er »weiß, dass sie recht hat«, weil er »sie nicht weinen sehen kann« und wünscht es sich doch anders. »Es kann auch sein, dass aus einem Unmenschen einmal ein Mensch wird!« ist Stefanie Reinspergers Lieblingssatz ihrer Rolle, wie sie in einem Interview verrät.
Ambivalentes Spiel
Und doch taugt der prügelnde Macho, dessen Name übersetzt »Lilie« bedeutet und ausgerechnet für Reinheit und Schönheit steht, nicht als Sozialstudie. Nur drei Prozent der Männer, die ihre Frau schwer misshandeln, haben weder einen Schul-, noch Ausbildungsabschluss. 52 Prozent der Täter verfügen über niedrige und mittlere Abschlüsse und 37 Prozent über die höchsten Bildungs- und Ausbildungsgrade. (Studie Deutschland 2009) Wenn Liliom »die Hand ausrutscht«, ist das eine individuelle Entscheidung, und das Verständnis, das Reinspergers ambivalentes Spiel erzeugt, ist keine Entschuldigung, sondern ein wichtiges Verstehen von Prozessen, die Gewalt auslösen.
Die hochkarätige Besetzung hilft über kleine, etwas zähe Momente im Mittelteil hinweg. Im Ensemble begeistern vor allem Sebastian Wendelin als Wiener Strizzi, Franziska Hackl als Lilioms Chefin Frau Muskat und die sehr komödiantischen Zeynep Buyrac und Stefko Hanushevsky als Freundin Marie und ihr peinlicher Hugo.
Die wunderbar trotzige, äußerlich kleine, zarte Julie von Maresi Riegner ist die perfekte Ergänzung zu Stefanie Reinsperger. Eigentlich ist sie die Lilie, die zweite zarte Seele, die zweite Person mit unbändiger Kraft und starkem Willen, das Weiß im Ying und Yang. Sie wehrt sich erst, als der für sie nicht erkennbare Liliom bei seiner letzten Prüfung wieder versagt und fast die Tochter schlägt. Und so erspart uns die Inszenierung auch die einer anderen Zeit geschuldeten Aussage, es gebe Schläge, die nicht weh tun.
Es bleibt vieles, das weh tut, und dann kommt dieser Film, der so tief berührt und ein bisschen Hoffnung lässt. Ist das Leben nicht schön?