Ausgeliefert

Zwischen Gott und Vater – ein Essay für die junge Welt Sonderbeilage zum Thema Kinder

https://www.jungewelt.de/beilage/art/475258

Ausgeliefert
Zwischen Gott und Vater
Von Eileen Heerdegen

»Guten Abend, gut’ Nacht«. Die Mutter singt Schlaflieder. Der Vater versteckt heimlich die bunten Eier im Wald, das Kind schreit vor Freude, wenn es die Farbtupfer im Gras am Wegesrand entdeckt. Am 1. Mai holt der Vater die Wandergitarre aus dem Schrank, und sie singen, »Der Mai ist gekommen« und noch viel lieber »Komm lieber Mai«. Fröhlich, zukunftsgewandt wie helles Blättergrün. Es gibt ein Tonbandgerät, später wird das Kind sich hören, »Klingelingeling tut tut«, so schön gesungen, aber wissen, dass es den Traumberuf nicht überlebt hätte. Für jeden Fehler, für jeden Eigensinn eine öffentliche Bestrafung. Die Mutter singt »Verschon’ uns, Gott! mit Strafen, Und lass’ uns ruhig schlafen! Und unsern kranken Nachbar auch!«

Wer ist der kranke Nachbar, was ist seine Schuld? »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.« Wie soll das Kind schlafen, wenn es nicht weiß, ob Gott will? Das Kind hat einen ganz kleinen Marienkäfer aus Schokolade mit schwarzen Pappfüßchen und einem glänzenden roten Staniolpapierkörper mit weißen Punkten im Supermarkt gestohlen. Es ist besser, ihn der Mutter zu zeigen, alles zu gestehen, als nicht mehr aufzuwachen. Die Mutter schimpft nicht einmal, ist sie noch traurig?

»Vielleicht ein bisschen den Papi« – sie hatten gefragt, wen es lieber mag. Das Kind hatte nicht antworten wollen, sich nicht entscheiden können. Doch sie hatten wieder und wieder gebohrt, nicht lockergelassen. Der Vater hatte gelacht, die Mutter geweint. Als das Kind in der Nacht aufwacht, ist niemand mehr da. Das Wohnzimmer hell erleuchtet, unter dem Strickzeug liegt die aufgeschlagene Fernsehzeitschrift. Das Fünfjährige steht im Hemdchen in der offenen Terrassentür und ruft so lange in die Nacht, bis ausgerechnet die Nachbarin, deren Tochter sich später mit zwölf das Leben nehmen wird, zu Hilfe kommt. »Du warst vernünftiger, als du noch ein Baby warst«, sagt die Mutter anschließend. Es ist schwer, alles richtig zu machen. Es ist schwer, richtig zu sein.

Wenn das Kind übermütig ist, aus dem verbotenen Apfelbaum stürzt, oder lacht, weil dem Vater ein Vogel auf den Kopf gekackt hat, anschließend im Wald von einem Holzstapel oder in einen Ameisenhaufen fällt, dann ist das »die Strafe Gottes«. Aber die scheint der Mutter nicht immer ausreichend, dann heißt es, »warte, bis dein Vater nach Hause kommt«.

»Bitte, bitte Mami, bitte sag es ihm nicht, bitte, bitte« – sie war doch die Mutter, die, auf die das Kind jeden Tag auf der langen Bank im Kindergarten wartet, voller Angst, sie könne nicht rechtzeitig kommen, voller Freude, wenn irgendwann der bauschige Rock mit den riesigen aufgedruckten Sonnenblumen auftaucht. Die Mutter, die oft zu spät kommt, weil sie die ganze Nacht hindurch am »Hühnerposten« Briefe sortiert. Das Kind soll es nicht wissen, es soll nicht ausplappern, dass der Vater nicht genug verdient. Der Vater, der zu stolz zum Armsein ist, stolz auf seine schöne Frau (solange keine interessantere daherkommt) und stolz auf sein »liebes Mädchen«, zumindest, solange es diese Bedingung erfüllt.

Der Vater hat als Kind im Opernchor gesungen und pfeift gern Arien, wenn er fröhlich zur Tür hereinschaut. Er lacht. »Bitte nicht«, hofft das Kind immer noch. »Es muss sein!« Das Kind ist selbst schuld. Schuld an der Wut, die wie ein Unwetter hereinbricht. Die Mutter kennt kein Erbarmen und sieht teilnahmslos zu, wie das Kind jetzt geschlagen wird. Sie selbst ist noch mit dem Rohrstock verprügelt worden, und den beiden, die Gewalt und Tod im Krieg erlebt hatten, tut es vielleicht sogar tatsächlich selbst weh, wie die Mutter gern betont, wenn sie ihr »kleines Mädchen« nur mit der Hand! Nur auf den Po! demütigen.

Oft weiß das Kind nicht einmal mehr, warum es bestraft werden musste, es hat gelernt, dass es immer und jederzeit in Gefahr ist. In seinen ersten Lebensjahren fahren noch die letzten Dampflokomotiven auf der Bahntrasse, die durch den naheliegenden Wald führt. Schon von weitem sind laute Pfeiftöne und das Rattern des näherkommenden Zuges zu hören, schnell stecken Spaziergänger mitten im weiß-grauen Rauch. Das Kind hat Todesangst, es kann die Geräusche nicht orten, weiß nicht, dass die Bahn nicht beliebig über Waldwege rauscht. Der Vater hilft nicht – »Lauf so schnell du kannst« – und erzählt noch Jahrzehnte später, wie lustig es ausgesehen habe, wenn das Kind schreiend gerannt ist, die Hände immer schützend auf dem Po.

»Die Madonna soll uns helfen, niemand kanns, wenns die nicht kann«, heißt es in André Hellers »Angstlied«, aber das Kind hat keine Madonna, nur diesen einen Gott Vater, der so undurchschaubar ist.

Das Kind liebt seinen Vater über alles, sie basteln Drachen und lassen sie auf den Stoppelfeldern steigen, sie fahren auf Klapprädern durch die Boberger Dünen, und sie sehen gemeinsam »Mary Poppins« im Kino. Alles ist gut, wenn das Kind keine Fehler macht.

Doch die muss es gar nicht begehen, um geschlagen zu werden. Deutsch-Schularbeit, das Kind ist gut, sehr gut sogar und fast fertig. Es träumt, wie so oft, in Richtung Fenster, es beobachtet Wolken, die wie ein verschneites Gebirge hinter der Turnhalle auftauchen. Klatsch! Die Hand von Dr. Höppner brennt wie Feuer im Gesicht des erschrockenen Kindes. »Zur Seite geschaut, um abzuschreiben!« – das fassungslose Opfer lässt alles stehen und liegen, rennt weinend heim und bekommt eine sechs für die nicht abgeschlossene Arbeit.

Vorsichtshalber geht das Kind jeden Sonnabend zur Beichte, als es endlich alt genug für die Kommunion ist. Es denkt sich Sünden aus, um zu bereuen, zwei Rosenkränze und drei Ave Maria zu beten und dann endlich jeden Sonntag, stolz im weißen Spitzenkleid als kleine Braut des Sohnes des himmlischen Vaters (die Dreieinigkeit ist der Kinderverlobten allerdings unverständlich) eine Hostie in den Mund gelegt zu bekommen. Den Vater hat Gott nie interessiert, die Mutter würde gern ihren Voodookatholizismus praktizieren, ist aber wegen des Hühnerpostens viel zu müde, das Kind jedes Wochenende zweimal drei Kilometer zu Fuß zu begleiten. Aber noch näher wird das Kind seinem Gott nicht kommen, Ministranten sind ausschließlich männlich.

Jahrzehnte später wird das Kind erfahren, dass Dr. Höppner vom Vater tatsächlich zur Rede gestellt worden war, die beiden sich aber anschließend vielleicht nicht gerade in den Armen gelegen, aber die Einstellung geteilt hatten, dass das Kind sie mit seiner Träumerei, Bedächtigkeit und Andersartigkeit wütend machte.

Das Kind hat trotz alledem seine Haustiere nie geschlagen, und es wird seinen Vater immer lieben. Er war wunderbar und der beste Vater, den das Kind je hatte. Als er ahnte, dass Gott ihn am Morgen nicht mehr aufwachen lassen konnte, hat sich der Vater bei dem Kind entschuldigt. Er hat einige Demütigungen und Schläge mitgenommen, die Angst hat er da gelassen. Aber das Kind weiß schließlich, dass es von Gott geliebt wird, auch wenn es den vielleicht gar nicht gibt.