Lieder für Lulu

Niemals aufgeben: Das Album »My Back Was a Bridge for You to Cross« von Anohni and the Johnsons

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Lieder für Lulu
Niemals aufgeben: Das Album »My Back Was a Bridge for You to Cross« von Anohni and the Johnsons
Von Eileen Heerdegen

»Hope there’s someone / Who’ll take care of me / When I die« – nur ihr Mörder, Jack the Ripper, war bei Lulu, als sie, wie ersehnt, gewaltvoll starb, nachdem das Leben ihr permanent Gewalt angetan hatte. Susanne Lothar war Frank Wedekinds Titelfigur 1991 in der legendären Zadek-Inszenierung im Hamburger Schauspielhaus. Wechselnden Männern ausgeliefert, völlig unbekleidet, aber vor allem nackt bis ins Herz. So hat Lothar immer gespielt, auch 2008, in einem Sterbehilfedrama-»Tatort«, ein Jahr nach dem qualvollen Krebstod ihres Mannes Ulrich Mühe, ein Jahr nachdem die Presse sie schwer im Rennen um die erste Todesnachricht belästigt hatte, vier Jahre bevor sie selbst nichts mehr geben konnte.

»Hope there’s someone / Who’ll take care of me / When I die« – völlig unmöglich, bei diesem Song nicht zu weinen. Der ganze Schmerz, den ein Mensch in sich tragen kann, liegt in diesem Stück, das jenen düsteren »Tatort« musikalisch perfekt ergänzte. Eine betörende, verstörende Stimme mit Geschlechtszuordnungsverweigerung und Falsett, irgendwo zwischen Norah Jones und dem Tremolo von Bryan Ferry, das aber hoch zehn. Mein erstes Mal mit Antony and the Johnsons und so auf ewig mit »Suse« und ihrer Lulu verbunden. Das passt: Marsha P. Johnson, Dragaktivistin, die angeblich den ersten Stein bei den Stonewall Riots in der Christopher Street warf, verdiente als Prostituierte das Geld für soziale Projekte – 1992 wurde ihre Leiche aus dem Hudson gefischt. Sie gab den Namen für die Band um Anohni Hegarty, eine trans Frau, die bis 2015 Antony hieß.

Nach dem 2016er Soloalbum »Hope­lessness« ist Marsha bei Anoh­ni and the Johnsons nun nicht nur namentlich wieder präsent, das aktuelle LP-Cover zeigt ihr Porträt, und der Titel, »My Back Was a Bridge for You to Cross«, ist eine Verbeugung vor einer Kämpferin, die mit vollem Einsatz Wege geebnet hat. Schon das erste Stück, »It Must Change«, kommt mit deutlicher Aussage, auch wenn offengelassen wird, ob es um persönliche Veränderungen oder die im Video plakativ gezeigte brennende Welt geht. Nach den deutlichen Worten auf »Hope­lessness« zu Folter und Todesstrafe, die Verbitterung über Obama, ist das aktuelle Album eher dem Motto der frühen Frauenbewegung gewidmet: »Das Private ist politisch.«

Auch musikalisch findet sich die 1971 im britischen Chichester geborene Englishwoman in New York nach ihrem wütenden und dennoch fast poppigen, fast elektronischen Überraschungssolo nun wieder im Bereich der (schwarzen) Wurzeln ihres 2005er Shootingwerks »I Am a Bird Now« mit dem eingangs erwähnten »Hope There’s Someone«. Noch zurückhaltender arrangiert, oft sparsamst ins­trumentiert. Lässiger, gitarrenlastiger Soul, gelegentlich jazzig, jedoch niemals in Gefahr, sich als Hintergrundbarmusik missbrauchen zu lassen. Das verhindert schon der Gesang, der auch in sanften Momenten zu präsent und fordernd ist, um überhört zu werden. Ihre Heldinnen Nina Simone, Aretha Franklin und Billie Holiday hätten sie gelehrt, mit Würde und dem ganzen Körper gegen erdrückende Verhältnisse anzusingen, so Anohni im Juli in einem Interview mit Zeit online. Resilienz sei ihr Ziel.

Das Leben in einer sterbenden Welt auszuhalten (»Why I Am Alive Now«) oder als Sündenbock (»Scapegoat«) herhalten zu müssen, den man nicht schützen muss, sondern einfach töten darf: »You’re so killable, dissapearable, this one we need not protect, this one’s a freebie for our guns.« Ein herausragender Song mit Walgesängen und einem verstörenden, dissonanten Ende nach einer langen, geradezu glücklich machenden hymnischen Passage.

Da ist »Go Ahead« – mach ruhig so weiter mit deinem Selbsthass – der überraschend wütende Ausreißer mit noch wütenderer E-Gitarre, schon fast vergessen, und »You Be Free«, der wahnsinnig traurige Albumabschluss über gebrochene Rücken und Brücken, macht klar: Eine wie Anohni gibt nicht auf, eher wirft sie den ersten Stein.