Voll ins Hirn

Wir werden alle verarscht: Rebellisches von Kid Kapichi

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Voll ins Hirn
Wir werden alle verarscht: Rebellisches von Kid Kapichi
Von Eileen Heerdegen

Kleines Quiz für die Opfer zahlenfixierter Geschichtslehrer: »333, bei Issos Keilerei« lass ich weg, das kennt jeder. 1099? Richtig, Canossa. 1066??? Wow, right, the Battle of Hastings. Allerdings fand die Schlacht des siegreichen William the Conqueror gar nicht dort, sondern in Battle (wo sonst) statt. Egal, im hübschen, hügeligen Hastings gibt es neben einem sehr skurrilen Bed and Breakfast eine bemerkenswerte Band, die mir vielleicht nie aufgefallen wäre, hätte ihr Heimatort nicht Sentimentales getriggert.

So richtig was fürs Gefühl ist die Musik von Kid Kapichi aber eher nicht. Okay, Definitionssache, mit Ärger und Wut im Bauch fühlt man sich willkommen. »New England«, der Opener auf dem neuen (und zweiten) Album mit dem sarkastischen Titel, »Das wäre Ihr Preis gewesen«, legt gleich so rebellisch los, dass sich Depressionen hinten anstellen müssen. Gemeinsam mit den Jungs von Bob Vylan (Kandidaten für den Geile-Namen-Award) wird es ziemlich laut und trotzdem zum Ohrwurm. Der Sprechgesang rotzt ein trauriges Bild des heutigen Englands: »Get my news from the Daily Star / Get my kicks from tits and arses / Never mind about social classes / I’ll cast my vote regardless / I keep voting for the rich and heartless« (Beziehe meine Nachrichten vom Daily Star, meine Kicks durch Arsch und Titten, mich interessieren keine gesellschaftlichen Klassen, ich wähle irgendwas, ich wähle weiterhin die Reichen und Herzlosen). Und statt »Rule Britannia, Britannia, rule the waves« stellen Kid Kapichi ernüchtert fest: »You’re such a fool Britannia, Britannia fooled again«. Wir werden alle verarscht.

Mit »Rob the Supermarket« geht es deutlich und direkt weiter – nehmt euch, was ihr braucht, oder sinngemäß, macht kaputt, was euch kaputt macht. Musikalisch lassen hier Ian Dury and the Blockheads grüßen, überhaupt sperren sich die jungen Engländer gegen allzu enge Schubladen. Für Jack Wilson, Ben Beetham (beide Gesang/Gitarre), George Macdonald (Drums) und Eddie Lewis (Bass) wurde der Begriff »Alternative« erfunden, in der großen Grabbelkiste findet jeder, was er braucht. Frank Carter & the Rattlesnakes meets Sleaford Mods, hier wird auch fündig, wer die heftigen Streets, aber auch moderne Hip-Hop-beeinflusste Spoken-Words-Titel mag. Wie I.N.V.U., Abkürzung für »I envy you« (Ich beneide dich). Schnelle Autos, Krokoleder und Rolex, ein Spottlied auf (erfolg-)reiche und doch so armselige »Top Dogs«, der fiese Bassverzerrer bohrt sich voll ins Hirn.

In einem Interview gestand Sänger Jack Wilson, dass er neben all dem rebellischen Trotzrock vor allem die alten Britpopper von Blur liebt. Das darf Liam Gallagher nicht hören, denn der wiederum verliebte sich dermaßen in Kid Kapichis Song »Party at No. 10«, dass er den Nachwuchs als Support in die Royal Albert Hall einlud. »Don’t get excited, we’re not invited« – ein böses Lied über die Coronapartys in der Downing Street. »It’s one rule for you and another for them«. Die Wut versteckt in einem hübschen Oasis-Wiedergänger.

Auf einem Bein kann man nicht stehen, und so beehrt uns Liam ein zweites Mal, jedenfalls hätte ich da jede Wette verloren. »Never really had you«, ein Liebes- bzw. Entliebeslied im Gal­lagher-Sound, ein wunderbar sentimentaler Votivkerzenschimmer für die Ruhe vor dem Sturm.

Und schon kommt der Baseballschläger (auch musikalisch) gefährlich nah. »Work hard / Play fair / Low cholesterol / Full head of hair«. Nein! »I’m happy / So happy / So glad my / Mum had me«. Nein: »Smash the Gaff«, hier ist jemand am Ende und kann nur noch zuschlagen, brutal und zynisch, trotzdem mit eingängigem Refrain.

Am Ende bleibt die Frage, die seit dem ersten Titel im Kopf hängt: »Is it you can’t change / Or that you won’t change?« Kannst oder willst du nichts ändern?