Die Stimme im Kopf: Warsan Shires verstörend schöne Gedichte. »Schutzbedürftig!« Ein Arschlochlachen, nicht einmal einen Meter von mir entfernt. Wir haben sicher nicht das gleiche Ziel, aber für eine Weile nehmen wir denselben Weg. Das Lachen und seine Freunde haben sich für die Kronenzeitung entschieden, ich lese Gedichte.
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Zuhause ist das Maul eines Haifischs
Die Stimme im Kopf: Warsan Shires verstörend schöne Gedichte
Von Eileen Heerdegen
»Schutzbedürftig!« Ein Arschlochlachen, nicht einmal einen Meter von mir entfernt. Wir haben sicher nicht das gleiche Ziel, aber für eine Weile nehmen wir denselben Weg. Das Lachen und seine Freunde haben sich für die Kronenzeitung entschieden, ich lese Gedichte.
Erst als das Lachen einsetzte, hatte ich bemerkt, dass wir schon in Linz waren. Hier hatten 200 Jugendliche an Halloween randaliert. Eigentlich wurde überall randaliert, es wurde geprügelt, zugestochen, Todesdrohungen ausgesprochen und nach Herzenslust Pyrotechnik in Menschenhaufen geschossen. Aber nur in Linz waren es Asylsuchende (sechs), Asylberechtigte (28 Syrer, 14 Afghanen), subsidiär Schutzberechtigte (sechs) und – shocking – von den 46 Österreichern hatten 34 Migrationshintergrund. Fein aufgelistet, deutsche Tugenden auch in österreichischen Presseorganen.
»Alle auf’n Lkw und ab nach Hause!« Das Lachen erntet Beifall, ich lese Gedichte. Bedrückende, verstörende, erhellende Zeilen in »Haus Feuer Körper« der somalisch-britischen Autorin Warsan Shire: »Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn, Zuhause ist das Maul eines Haifischs … Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, es sei denn das Wasser ist sicherer als das Land.« I lost my Baby – die Frau im Wasser schreit immer und immer wieder. Alan Kurdi hat das schon hinter sich und liegt im weichen Sand.
»… es sei denn, Zuhause jagt dich davon. Du wartest bis zur Flughafentoilette, um den Pass zu zerreißen und hinunterzuschlucken, und jeder traurige Bissen macht dir bewusst, dass du nicht zurückkehren wirst.«
Wiener Hauptbahnhof, 2015. Eine kleine Familie. Erschöpft und verloren. Der Mann sieht kurz hoch, ich versuche ein Lächeln. Seine Dankbarkeit beschämt mich. »Grenzübergang für Grenzübergang werden Geflüchtete gefragt, / bist du Mensch? / Flüchtling ist sich sicher, noch Mensch zu sein, doch fürchtet, / die Klassifikation könnte sich über Nacht, während es schlief, / geändert haben.«
Warsan Shire, 1988 in Kenia als Tochter somalischer Migranten geboren, kam 1989 nach London. Wie anderthalb Millionen Somalis floh auch ein Großteil ihrer Familie aus dem Bürgerkrieg, dem allein in den ersten vier Monaten nur in der Hauptstadt Mogadischu 25.000 Menschen zum Opfer fielen. Shire hat die Gabe zu sehen und hinzuhören, und die Abgründe dieser Welt gleichermaßen poetisch wie präzise zu beschreiben, mitfühlbar zu machen.
»Mein Rilke«, sagt gern mal einer, aber in Wahrheit liest niemand Gedichte. Das Buch mit dem Originaltitel »Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head« (segne die Tochter, die mit einer Stimme in ihrem Kopf aufwuchs) beweist, dass es sich lohnt. Dass es jenseits der Zumutungen aus der Rubrik »reim dich, oder ich fress dich« oder dem, was in sozialen Medien als »voll schön« gilt, dass es jenseits der Klassiker moderne Formen gibt, die völlig unverkitscht berühren und bewegen.
»Ein Kreislauf, ein Mädchen geboren, / in jede Familie, / Vorspiel des Leidens.« – »Zeig uns an der Puppe, wo du angefasst wurdest, sagten sie. / Und ich sagte, ich sah nicht aus wie eine Puppe, eher wie ein Haus. / Sie sagten, Zeig es uns am Haus. / Etwa so: Zwei Finger in den Abfluss. / Etwa so: Eine Faust durch die Rigipswand.«
Warsan Shire, die mittlerweile in Los Angeles lebt, wurde mit dem »African Poetry Prize« ausgezeichnet und R ’n’ B-Queen Beyoncé verwendete ihre Texte im Album »Lemonade«.
Und immer wieder die Sehnsucht nach dem Zuhause. »Victoria in Illiyin« (Victoria im Paradies des Korans) über ein achtjähriges ivorisches Mädchen, das getrennt von seinen Eltern in einer Londoner Wohnung gefoltert und umgebracht wurde: »Unsere Victoria, sanft aus dem Wasser getragen auf den Schultern von Engeln, / liebevoll auf die nach oben gerichtete Handfläche Gottes gelegt. / Segenswünsche unserer süßen Victoria, reich belohnt mit 72 treusorgenden / Müttern, / die ihren kleinen Körper behutsam abtrocknen mit Wolle weicher als Haut.«