Der letzte Traum ist ausgeblieben

Neues Album »?0??«: Die Fehlfarben mischen sich auch 2022 wieder ein

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Der letzte Traum ist ausgeblieben
Neues Album »?0??«: Die Fehlfarben mischen sich auch 2022 wieder ein
Von Eileen Heerdegen

»Am Aschermittwoch ist alles vorbei.« Als rheinische Band kennen sich die Fehlfarben damit natürlich aus, aber dass sie bereits 2012 in »Dekade 2«, dem Opener ihres Albums »Xenophonie«, konkret das Jahr benennen konnten (»2022, das Spiel ist jetzt vorbei!«) wirkt eher norddeutsch spökenkiekerisch.

Es war nicht der Aschermittwoch, aber sechs Tage davor – und aus »Sag nein!« wurde »Schreit ja!«, aus Diplomatie wurden Eier wie Stahl. Politiker nennen das Zeitenwende, und die Fehlfarben singen: »Schon wieder Krieg, zum Glück nicht bei mir / Das lass ich mir was kosten, da zahl ich was dafür.« Der Song heißt »Stolz?« und ist für mich eindeutig das Highlight des neuen Albums »?0??«.

Die Band aus Düsseldorf und Wuppertal mit ihrem typischen Funk-Ska-Postpunk-Indie-Sound ist wohl eine der bekanntesten, stetigsten und trotzdem nicht wirklich berühmten Gruppen im deutschsprachigen Raum. Über 50jährige haben – sofern sie nicht schon immer Mitglieder der Jungen Union waren – wahrscheinlich die legendäre Debüt-LP »Monarchie und Alltag« aus dem Jahr 1980 im Plattenschrank, die noch Jüngeren zumindest irgendeinen NDW-Sampler, worauf sich immer auch der Fehlfarben-Superhit »Ein Jahr (es geht voran)« befindet, besser bekannt unter dem Refrain »Geschichte wird gemacht, es geht voran!« – bis heute versetzen mich schon die ersten Takte in euphorische Stimmung. Vielleicht, weil die Zeit noch einmal so etwas wie ein Sichaufbäumen war; musikalisch nach Punk, Nina Hagen und DAF und vor der ganzen Spaßpartie, politisch nach Anti-AKW-Großaktionen und vor dem »grünen« Marsch durch die Institutionen, der letztlich die Protestbewegung fast völlig vereinnahmte.

Die Fehlfarben fühlten sich zwischen Fräulein Menke und Hubert Kah nicht wohl, Sänger Peter Hein entschied sich für den Brotjob im Büro, schließlich trennte man sich. 2002 ein Neuanfang mit dem Longplayer »Knietief im Dispo«, das aktuelle Album ist seither bereits das sechste der fleißigen Truppe: Peter Hein (Gesang), Thomas Schneider (Gitarre), Michael Kemner (Bass), Frank Fenstermacher (Keyboard, Saxophon, Percussion), Kurt Dahlke (Keyboard, Synthesizer), Saskia von Klitzing (Schlagzeug).

Wo Fehlfarben draufsteht, sind auch Fehlfarben drin – die »Fehlis« begleiten ihre Fans in gewohnter Qualität ins Alter: »Jetzt bin ich einmal herum im Kreis / Statt Junior- krieg ich Seniorenpreis.« Musikalisch sind die Musikerinnen und Musiker schon immer innovativ gewesen, Altbackenes ist nicht zu erwarten. Manche Alben sind etwas verspielter, dieses wieder direkter. Ein wirklich ungewöhnliches Stück wie »Herbstwind« aus dem Jahr 2012 hätte ich mir mal wieder gewünscht, aber die Zeiten stehen eben eher auf Sturm. Der 65jährige Peter Hein klingt anders als der 23jährige Debütant, dem immer noch schnellen, treibenden Rhythmus fehlt nachvollziehbar die Ekstase der Anfangszeit. »So hatten wir uns das nicht vorgestellt«, textete Hein schon 2015, das neue Album ist insgesamt noch stärker von Ernüchterung geprägt. »Der erste Traum war nur zu siegen / Der zweite Traum war hochzufliegen / Der dritte Traum war sich zu lieben / Der letzte Traum ist ausgeblieben.«

Das Spiel ist vorbei? In dem wunderbaren Buch »Les jeux sont faits« (dt.: »Das Spiel ist aus«) von Jean-Paul Sartre geht es um die Frage, ob man alles noch einmal genau so machen würde, bekäme man eine zweite Chance. »Das Rennen macht müde … Der Schmerz kommt in Schüben« – aber ja, wir könnten immer noch Geschichte machen. In diesem Sinne muss das Spiel noch lange nicht vorbei sein.