Fett und schizophren

Die Mutter ist dick, und daher an allem schuld. Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“ hat es bis auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft und ist tatsächlich sehr lesenswert.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/436344

Fett und schizophren
Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“

Von Eileen Heerdegen

„So ä dreggisch Weibsstick“. Die Ablehnung ist grundsätzlich, unüberwindbar und permanent, quillt allerdings selten so deutlich aus der Martha-Oma heraus. Ihr Augapfel-Vorgarten, verwüstet von der Schwiegertochter. Doch deren eigentlicher, unverzeihlicher Fehler wiegt schwerer – sie ist dick.

„Der dicke Mensch unterscheidet sich von anderen Neurotikern dadurch, dass man sieht, dass er ein Neurotiker ist. Die anderen können das besser verbergen.“ Franz Schuh, Wiener Schriftsteller und Philosoph, kennt und erlebt das Problem am eigenen Leib: „Es gibt Krankheiten, die keine Wahl lassen, man geht in ihnen unter.“

Einfach weniger fressen! Trotz oder wegen der Demütigung durch solche (Rat)Schläge kämpfen Millionen dicker Menschen gegen diesen Untergang an. Mit viel Disziplin und großer Verzweiflung. Manchmal mit Erfolg und (kurzfristiger) Anerkennung – jetzt gehörst du zu uns – und garantierter Verachtung und Häme, wenn der zum Verzicht gezwungene Körper sich schließlich wieder holt, was er will. 

Demütigung und Verachtung ziehen sich durch den Roman wie das Erinnerungsmotiv in großen Musikwerken. Alle gegen eine, gegen die Mutter der Autorin, alternativ die Mutter der Erzählerin Ela, denn der Begriff Autofiktion, den Daniela Dröscher für ihr Buch benutzt, überlässt die Zuordnung von Dichtung und Wahrheit dem Leser. Das gilt auch für die Lügen – lügen sei doch ihr Beruf, erklärt die Mutter ihrer Tochter, der Schriftstellerin, in einem Prolog zur Entstehung des Buches.

Dennoch bleibt zu befürchten, dass es sich in der Erzählung, die hauptsächlich die Jahre 1983 bis 1986 umfasst, um bittere Wahrheit handelt. Mit fast tagebuchartiger Genauigkeit wird eine frühe „Coming of Age“-Phase aus der Sicht eines damals sechs- bis neunjährigen Mädchens in einem Dorf im Hunsrück beschrieben. Mir selbst ist vieles erspart geblieben, meine Mutter wollte unbedingt das hessische Kleinststädtchen verlassen, „bevor das Kind zu sprechen beginnt“. Aber vielleicht war die Sprache nicht der wahre Grund, denn meine Mutter war ein „Flüchtlingsmädel“ und, wie die Romanfigur, aus Schlesien. Ein „dreggisch Bolagge-Weib“. Doch verstörender als ein wenig charmant klingender Dialekt ist die Tatsache, dass die Schilderungen an meine eigene, wesentlich länger zurückliegende, Kindheit erinnern; dass, während wir Großstädterinnen später mit bunten Haaren die 80er feierten, eine Zeitmaschine Menschen im Hunsrück in den 70er, wenn nicht sogar 60er Jahren des letzten Jahrhunderts bombenfest hielt. Vor allem die Frauen. 

Vor allem die Frauen, die nicht angepasst waren, oder – schlimmer – sich nicht anpassen wollten. Wie die wegen des altersuntypischen Makeups „die Bopp“ (Puppe) genannte Schwester der Martha-Oma mit ihrem wesentlich jüngeren (!), türkischen (!) Liebhaber, oder eben die Mutter. Die „kein Maß kennt. Nicht beim Geld und nicht beim Essen.“, wie der Vater behauptet.

In Wahrheit aber ist der Vater maßlos. Maßlos, rücksichtslos, egozentrisch in der Befriedigung seiner Bedürfnisse. Ein Emporkömmling mit fast pathologischem Hang zu Statussymbolen. Kommt er nicht empor, ist die Mutter schuld. „Ein Mann ohne eine vorzeigbare Frau würde eine solche Stellung niemals bekommen.“ Das denkt er nicht nur, er spricht es aus. Vorwurfsvoll. Anklagend. Ein Tyrann, dem die Weiterbildung seiner Frau zu teuer ist, der aber das Geld, das sie geerbt hat, mit vollen Händen ausgibt. Für sein Traumauto. Für sein Traumhaus. Sie wehrt sich kaum, sie bleibt. Man kann einen Menschen mit Fäusten oder einer Wohnung (er)schlagen, aber auch mit Worten. „Fett und schizophren“ sei sie, er zwingt sie zu einer „Kur“, sie muss sich täglich vor ihm wiegen, nimmt sie zu, darf sie nicht mit ins Schwimmbad und nicht mit in den Urlaub. Strafe muss sein. Sie nimmt sie an und reagiert wie die meisten Essgestörten mit Selbstverletzung in Form von Bergen heimlich im Keller gefressener Schokolade. „Schämst du dich nicht?“, fragt er sie wieder und wieder, weil er sich schämt, wegen dieser dicken Frau, ohne die er nicht lebensfähig wäre. Sie ist mutig, wenn er feige ist. Sie haut ihn raus, wenn er sich in maßloser Selbstüberschätzung in unheilvolle Situationen verstrickt. Sie kümmert sich allein um Haushalt und Tochter, dazu ein gleichaltriges Pflegekind, später noch ein Baby und schließlich kommt noch ihre alzheimerkranke und pflegebedürftige Mutter dazu. Sie ist warmherzig, klug und umsichtig – er ist nur dünn.

Auch die Erzählerin ist dünn. Wenn sie in dem Buch vielleicht einmal zuviel das Leichtathletiktraining erwähnt, sich wiederholt als schlank und sportlich beschreibt, erwähnt, dass sie der Mutter nicht ähnelt, spürt man den Konflikt des Kindes, der bis heute nachwirkt. Denn die Perspektive ist scheinbar die einer Sechs- bzw. Neunjährigen, tatsächlich rekonstruiert und erinnert sich eine 45-jährige Erwachsene. Sie erinnert sich detailreich, manchmal amüsant, in einer geradlinigen Sprache, die ganz selten mal am Trivialen kratzt und weder ungewöhnlich, noch um Originalität bemüht ist. Trotz der Enge dörflichen Lebens, trotz Neid, Missgunst und ständigem Familienstreit schafft Daniela Dröscher eine durchaus heitere Atmosphäre, durch die man sich leicht hindurchliest.

Die Bezeichnung „tragikomisch“, die der Klappentext aufdrängt, empfinde ich allerdings als völlig unzulässige Verharmlosung der Quälereien, denen die Mutter ausgesetzt ist.

„Wie kann ich über meine Mutter schreiben, ohne den Blick meines Vaters auf sie zu wiederholen?“ fragt die Schriftstellerin, die kluge Mutter weiß, dass sie geschützt sein wird. Herausgekommen ist ein lesenswertes Buch über die berühmten inneren und äußeren Werte, das in scheinbarem Widerspruch zu seinem umwerfenden Titel viele Wahrheiten transportiert. Wie diese von John Lennon, die dicke und dünne Körper gleichermaßen betrifft: „One thing you can’t hide / Is when you’re crippled inside”.