Wenn die Anwohner des idyllischen Grinzinger Platzl in lauen Sommernächten bei geöffneten Fenstern schlafen können, weil weder tiefergelegte BMW mit Capital-Bra-Beschallung – „Die Bitches woll′n Sex, doch sind nicht mein Niveau“ – noch die Bitches selbst, laut kreischend aus Cabrio-Geilomobilen, im Sekundentakt Himmelstraße und Cobenzlgasse hinaufrasen, dann ist garantiert Neustifter Kirtag.
Peter Waldeck hat über einen Kirtag im Jahre 1985 ein wunderbares Buch geschrieben, ich habe es in der jungen Welt rezensiert.
https://www.jungewelt.de/artikel/435197.literatur-blut-und-beuschel.html
Blut und Beuschel im Salzgurkenfass
Peter Waldecks vergnügliche Groteske „Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag“
Von Eileen Heerdegen
Wenn die Anwohner des idyllischen Grinzinger Platzl in lauen Sommernächten bei geöffneten Fenstern schlafen können, weil weder tiefergelegte BMW mit Capital-Bra-Beschallung – „Die Bitches woll′n Sex, doch sind nicht mein Niveau“ – noch die Bitches selbst, laut kreischend aus Cabrio-Geilomobilen, im Sekundentakt Himmelstraße und Cobenzlgasse hinaufrasen, dann ist garantiert Neustifter Kirtag.
Jeden Sommer vier Tage Deppenparade am Wiener Stadtrand, die Bitches als Wiedergängerinnen ihrer Ur-Ur-Ur-Uromas aus 1938 brav mit Zöpfchen und Dirndl, die Buam ohne Schirmkappe, dafür in Lederhosen, und statt „fahr‘n ma Kahlenberg“ und cruisen geht’s mit Bus und Bim zum Schnitzel-Fressen. In bester Gesellschaft – Polit-Prominenz, mehrheitlich aus dem rechts bis rechts-rechts-rechts-Lager, dazu der wahrscheinlich bald 100-jährige Richard Lugner mit seiner Entourage aus blutjungen Betreuerinnen. Und über allem unfassbar viel Spaß und Alkohol.
Schuld an dem ganzen Elend ist Kaiserin Maria Theresia, die nicht nur für 16 Kinder mütterlich-milde Gefühle aufbrachte, sondern auch für die Neustifter Weinhauer, denen sie nach einer Missernte die Steuern erließ, und hin und her und blablabla, am Ende gab es jedenfalls den jährlichen Umzug der zum Dank gestifteten Hauerkrone, die wie eine Monstranz zwischen den Heurigen herumgetragen wird, und nun ist das Ganze sogar immaterielles Unesco Weltkulturerbe.
Aber nicht immer schoben sich die Massen durch die längst nicht mehr beschauliche Straße, an der, wie zum Hohn, noch ein paar Buschenschanken kleben. Am 17. August 1985 kam zum Grauen sich in die Bewusstlosigkeit trinkender Österreicher mit und ohne Migrationshintergrund noch die Trostlosigkeit einer schlecht besuchten Veranstaltung hinzu. So zumindest schildert es Autor Peter Waldeck, der selbst in Neustift aufgewachsen ist. 15 Jahre war er damals, das nährt den Verdacht, dass der auf Bier und Mädchen dauerspitze Michael, der mit seinen Eltern Sylvia und Thomas, Bruder Willi und Schwester Lisa zu den Protagonisten der Story zählt, autobiografische Züge haben könnte. Trotzdem ist die ganze Familie, wie überhaupt alle Akteure der Geschichte, mehr oder weniger unsympathisch – eine hervorragende Gelegenheit, sich dem Geschehen ohne falsches Mitleid lustvoll hinzugeben. Denn der Roman beginnt zwar etwas verhalten, aber genau in dem Moment, wo sich ein „so lustig wie ich dachte, ist das Buch gar nicht“ einschleichen will, nimmt der Irrsinn Fahrt auf.
Ein Knall (die Provinz-Skinheads Alex und Gabor mischen den Kirtag auf), und Familien-Angsthündin Bonny ist im Wald verschollen. Für Thomas eine Katastrophe, muss er doch der Karriere wegen unbedingt rechtzeitig zum Umtrunk mit Parteifreunden und möglicherweise anwesenden Parteigrößen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), bevor alle komplett im Öl sind. Dass er einigen Geld schuldet, dämpft die Vorfreude, wird allerdings sein geringstes Problem sein. Sylvia wird sicher nicht suchen, zumal sie den Tierarzt vom Haushaltsgeld zahlen muss. „Das Geld für Bonnys teure Entwurmungstabletten würde ihr für Betäubungsmittel fehlen, wenn sie im Alter mit pochenden Schmerzen im Spital lag.“
Man merkt dem Roman an, dass der Autor auch Theatermacher mit einem Faible für Comics und Popkultur ist. Die Erlebnisse der schließlich zur Hundesuche verdonnerten Jugendlichen werden rasant und in geschickt angeordneten Versatzstücken sowohl mit der Entwicklung von Einzelschicksalen, als auch mit komischen Episoden bis hin zu sich anbahnenden Tragödien verwoben.
Die Figuren sind zwar wenig liebenswert, dafür aber teilweise recht liebevoll gezeichnet. Der von groteskem Jähzorn getriebene Willi, Jung-Dandy Paul mit einer Aggressionen auslösenden Blasiertheit bis zum traurigen Salzgurkenverkäufer Radek, der mit sich selbst über die Optimierung der Gurkenproduktion philosophiert, während er still und heimlich das Hundswürschtl, das ihm die Skinheads ins Fass geworfen hatten, herausfischt, eh es sich ganz aufgelöst hat.
Während Lisa (angehende DJ und endlich ein Auftritt!) per Rennrad verzweifelt nicht nur Bonny, sondern auch ihre gestohlenen Schallplatten sucht, wird auch ihr Vater schließlich rasend vor Wut. Sylvia wird des Betrugs bezichtigt und Bonny (glücklicherweise nur kurzfristig) als Kampfhund „Steinwolf“ von Gabor adoptiert. Zuvor haben die zwei Neonazis den Kassierer der ÖVP so ins Koma geprügelt, dass er sich nach dem Aufwachen künftig für Bruno Kreisky halten wird. Nach der Blutspur, die sie am Kirtag hinterlassen haben, machen sie im Wald weiter – eine regelrechte Splatter-Orgie, an der das Nudisten-Ehepaar Trudi und Herbert nicht ganz unschuldig ist.
Laut Wikipedia wurde das Splatter-Genre übrigens früher im Deutschen als „Blut und Beuschel“ bezeichnet. Beuschel ist eine fragwürdige Wiener Spezialität: Lungenhaschee. Muss man wollen. Im vorliegenden Fall: Ja, unbedingt.