»Alles, was wir nicht erinnern«: Gernot Grünewald adaptiert am Hamburger Thalia-Theater Christiane Hoffmann
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Kein Tal, keine Rosen
»Alles, was wir nicht erinnern«: Gernot Grünewald adaptiert am Hamburger Thalia-Theater Christiane Hoffmann
Von Eileen Heerdegen
Squarra. Das klang »undeutsch«, also bekam die Familie meiner Mutter einen neuen Namen. Bis zu ihrem Tod stand in ihrem Personalausweis, sie sei eine geborene Geppert, die tatsächliche Herkunft war für immer verloren, so wie Kindheit, Jugend und Heimat im oberschlesischen Beuthen, dem heute polnischen Bytom.
»Vielleicht könnten bitte einmal alle aufstehen, die selbst Fluchterfahrungen gemacht haben«, beginnt der Abend im kleinen Haus zwei des Hamburger Thalia-Theaters. Zwei oder drei betagte Menschen erheben sich. Wir Kinder von Geflüchteten sind schon deutlich mehr, und bei der nächsten Generation steht fast der ganze Saal.
Flüchtlinge, Vertriebene, Migranten – Zwang oder Freiwilligkeit mit allen damit verbundenen Unschärfen bestimmen die sprachliche Zuordnung, das Einzelschicksal aber ist immer unfassbar. Am 22. Januar 1945 müssen die Einwohner des niederschlesischen Rosenthal ihre Heimat verlassen, größtenteils zu Fuß erreichen sie nach 558 Kilometern am 2. März 1945 Klinghardt an der heutigen deutsch-tschechischen Grenze. Eine Folge des von den Nazis begonnenen und verlorenen Weltkrieges. Der damals neunjährige Vater der Journalistin Christiane Hoffmann, zur Zeit Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung, war einer von ihnen. Nach seinem Tod macht sich die Tochter auf den Weg, die Fluchtroute als persönlichen Jakobsweg nachzuwandern, um dem Vater näherzukommen. »Alles, was wir nicht erinnern« wird ihre literarische Auseinandersetzung mit dieser Reise in Vergangenheit und Gegenwart, mit dem Trauma des Verlustes des überhöhten Sehnsuchtsortes Rosenthal, in dem es keine Rosen gibt und nur eine weite Ebene ohne Berg und Tal.
In den Häusern der vertriebenen Deutschen, im heute polnischen Różyna, leben nun ebenfalls aus dem Osten vertriebene polnische Familien aus dem jetzt ukrainischen Lwiw. Nach einem Besuch vor Ort mit Christiane Hoffmann und dem polnischen Autor Jarosław Murawski entwarf Regisseur Gernot Grünewald einen deutsch-polnischen Theaterabend, der versucht, mit Videos der Fluchtroute, mit O-Tönen, kleinen Spielszenen, Informationen und Kommentaren an das, was geschah, zu erinnern, um das Gestern, aber vor allem auch das Heute zu verstehen.
Es ist keine Schande, vertrieben zu werden, das gilt ausnahmslos für jeden. Und wenn wir die, die in elenden Schlauchbooten kommen, die oft sehr viel mehr als 550 Kilometer zu Fuß gehen müssen, vor unseren Grenzen ersaufen und erfrieren lassen, dann nicht (nur), weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Kultur haben. Meine Großeltern waren hellhäutige Deutsche, hatten sogar den fremdklingenden Namen abgelegt, meine Mutter ein typisches blondes Mädchen, nur leider ein »Flüchtlingsmädel«. Sie hatten keine fremde Kultur, aber sie hatten nichts. Und wie es im klug beobachteten »Tatort« letztens hieß, »die Polen sind nach dem Krieg gekommen und haben sich genommen, was uns gehört«. Wie und was genau das gewesen sein soll, interessierte und interessiert so wenig wie der Wahrheitsgehalt von angeblichen Verteilaktionen von Luxusgütern an Geflüchtete oder die Frage, die mittlerweile selbst Linke beschäftigt, ob Besitzer ukrainischer Nobelkarossen tatsächlich Bürgergeld kassieren und ob das wirklich unser größtes Problem sein kann.
Dieser kleine, bewegende Theaterabend, der gelegentlich den Charme einer Schüleraufführung hat, was ihn um so authentischer macht, wird wohl auch einige Menschen erreichen, denen bis jetzt der eigene Schmerz, der eigene Verlust, den Blick auf das Ganze verstellt.
Die nach Różyna vertriebenen Polen haben ihren deutschen Schicksalsgenossen die Hand gereicht, sie eingeladen und die einst zerstörten Gräber wieder restauriert. Der mit 19 Jahren gefallene große Bruder meines Vaters liegt auf einem polnischen Soldatenfriedhof, doch bevor hier Freundschaften entstehen können, wird das große Säbelrasseln alles wieder zerstören.