Intendantin Lotte de Beer inszeniert »Carmen« von Georges Bizet an der Wiener Volksoper
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Nimm dich in acht!
Intendantin Lotte de Beer inszeniert »Carmen« von Georges Bizet an der Wiener Volksoper
Von Eileen Heerdegen
»L’amour est un oiseau rebelle – Die Liebe ist ein rebellischer Vogel … / Wenn du mich nicht liebst, liebe ich dich / wenn ich dich liebe, nimm dich in acht!«
»Habanera«, eine der berühmtesten Arien der Opernwelt – Bizets Titelfigur, die andalusische Fabrikarbeiterin Carmen, nimmt sich was und wen sie will, selbstbewusst und durchaus rücksichtslos, und beschreibt damit tragischerweise ihr eigenes Schicksal.
Die »rassige Zigeunerin«, ich benutze hier bewusst diesen antiziganistischen Begriff, denn auch wenn Bizet die stark rassistische und frauenfeindliche Darstellung in Prosper Mérimées Novelle, der Grundlage des Librettos, abgemildert hat, so bleibt der Entwurf einer wilden Bohemienne, Mischung aus Miststück und geiler Verführerin. Eine, die sich nicht wundern darf, wenn einem Mann die Geduld platzt, die Hand ausrutscht, das Messer aufgeht.
Ein Femizid, laut Wikipedia »die Tötung von Frauen oder Mädchen als extreme Form geschlechtsbezogener Gewalt, die im Kontext patriarchaler Geschlechterdifferenzen verübt wird«. Bei Tötung durch einen Partner oder die Familie sind die Opfer weltweit zu fast zwei Drittel Frauen. 2023 gab es in Deutschland 155 Femizide, im fast zehnmal kleineren Österreich sogar 26.
Nach dem Hinweis, die Handys auszuschalten, beginnt die Aufführung in der Wiener Volksoper mit der bitter-launigen Bemerkung, Rauchen auf der Bühne dürfe leider nicht gezeigt werden, ein Femizid hingegen schon. Ein paar verschämte Lacher und die Hoffnung auf einen neuen Fokus, zumal die Premierenkritiken skeptisch bis ablehnend auf den angeblichen Versuch einer feministischen Sicht auf die Figur reagierten. Junger, weißer Mann, der gar eine »woke« Carmen mit Genderstudien und Hafermilch sah, vielleicht war sie ihm auch zu dick, die Premiere sang die wohlproportionierte Katia Ledoux: »Vor ein paar Jahren noch hätte man mir gesagt, dass ich unbedingt abnehmen muss, um Carmen zu singen. Dass ich jetzt in einem Haus wie der Volksoper mit dieser Rolle debütieren kann, ist ein Riesenschritt«, erklärte sie in einem Interview.
Am 11. Oktober tritt allerdings Annelie Sophie Müller als provokativ grinsende Carmencita zur Ouvertüre »Les Toreadors« vor den roten Vorhang. Eine zarte Person mit großer Stimme und ebensolcher Bühnenpräsenz, auf untypische Art sexy im hochgeschlossenen schwarzen Overall. »Ist Carmen tatsächlich die freie, unabhängige Frau, für die wir sie halten, oder ist sie vielmehr die Gefangene des Mythos von der freien, unabhängigen Frau? Sind es nicht gerade die Männer, die ihr diese Unabhängigkeit andichten, damit sich ihre Eroberung um so mehr lohnt? Vielleicht ist ihr Leben keine Reihe provokanter Entscheidungen, vielleicht ist es bloß ein Drehbuch, in dem sie die Rolle spielt, die sie spielen muss«, so Regisseurin Lotte de Beer.
Leider wird dieser Gedanke nicht konsequent verfolgt, versinkt sogar in einer allzu bunten Kulissenwelt. Die wie Aquarelle aus den 50er Jahren anmutenden Häuserattrappen, die eher Italourlaub als Fronarbeit in der Bruthitze Sevillas vermitteln, die sehr roten und sehr blauen Uniformen der Soldaten, die sehr bürgerlichen Spaziergänger und sehr klassisch kostümierten Frauenrollen, sollte das ironisch sein, so kommt es nicht an.
Egal, die Musik reißt’s raus, schwungvoll, lebendig, rasant; oder auch sanft schmelzend – das Orchester scheint großen Spaß an dem zu haben, was es macht. Gleiches gilt für die Sängerinnen und Sänger, für den Erwachsenen- und den Kinderchor.
Lotte de Beers Anspruch dringt hin und wieder durch, beispielsweise wenn die unbedarfte Micaela von immer enger heranrückenden Soldaten zum Bleiben gedrängt werden soll, eine Szene, die eine Vergewaltigung in den Raum stellt und großes Unbehagen verursacht. Der Auftritt eines gekünstelt-albernen Torero-Balletts ist als Antwort auf Machoallüren hingegen sehr vergnüglich.
Eine gelungene Schlussszene versöhnt mit manchen Ungereimtheiten. Der Stierkampf als Sinnbild akzeptierter menschlicher Grausamkeit. »Die Idee, dass manche Leben weniger wert sind, ist die Wurzel allen Übels auf dieser Welt« (Paul Farmer). Und so sehen wir statt einer Stierkampfarena in ein Spiegelbild, Theaterbesucher in den Logen eines Opernhauses. Es sind die typischen Begeisterungsschreie, aber sie bejubeln nicht das furchtbare Schauspiel eines Stierkampfes, sondern die Ermordung einer Frau. Tradition, es regnet Rosen.
Si tu ne m’aimes pas, je t’aime, si je t’aime, prends garde à toi – nimm dich in acht!