Die kleine Meerjungfrau

»Hit Me Hard and Soft« – Billie Eilish präsentiert ihr drittes Album

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Die kleine Meerjungfrau
»Hit Me Hard and Soft« – Billie Eilish präsentiert ihr drittes Album
Von Eileen Heerdegen

Der Junge, der das Jahr 2000 erleben wird! So hieß es hoffnungsvoll zur Geburt meines Vaters, und tatsächlich schaffte nur er es , der große Bruder »fiel« mit 19, wie man dahinsagt, als könne so einer wieder aufstehen. Erreicht hat er schließlich ganz knapp das Jahr 2020 und ist damit auf der sicheren Seite, keinen weiteren Weltkrieg erleben zu müssen.

»I try to live in black and white, but I’m so blue.« Thematisch also ein passender Einstieg in die melancholische Gedankenwelt einer jungen Frau, die das Jahr 2000 nicht erlebt hat – Billie Eilish Pirate Baird O’Connell kam erst im Dezember 2001 zur Welt, präsentiert aber mit »Hit Me Hard and Soft« bereits ihr drittes Album. Reduziert und nachdenklich ist es geworden, »Am I acting my age now? / Am I already on the way out? / When I step off the stage, / I’m a bird in a cage« (»Skinny«).

»And the internet is hungry for the meanest kinda funny, / And somebody’s gotta feed it In.« »Skinny«, der programmatische Opener des Albums, das die Künstlerin als Gesamtheit verstanden haben möchte, mixt den Text über verlorene Liebe, Selbstzweifel und Medienkritik so souverän wie die sanfte Musik. Eine schlichte Gitarre wird jazzig und versinkt schließlich in einem Streicher- und Synthiedrama, um nahtlos ins komplette Gegenteil, die rhythmusbetonte Dancenummer »Lunch« zu poppen.

»I could eat that girl for lunch / Yeah, she dances on my tongue / Tastes like she might be the one / And I could never get enough«, das macht nicht nur Billie, sondern auch so manchem Journalisten Appetit. Nachdem die Sängerin sich als lesbisch geoutet (oder vielleicht bi, findet Mann ja noch geiler) und zudem sehr freimütig ihre liebsten Masturbationspraktiken verraten hat, finden sich mindestens zwei männliche Rezensenten, die vom Cunnilingus träumen oder sogar meinen, das ganze Werk klinge nach dem Spaß, den Eilish habe, wenn sie Hand an sich legt.

Insgesamt bestimmen diese zwei Themen aktuell das mediale Bild der jungen Künstlerin, das gesellschaftspolitische Engagement scheint weniger interessant. Seit ihrem zwölften Lebensjahr lebt Billie Eilish vegan und unterstützt »Support and feed« (Klimagerechtigkeit und Ernährungssicherheit auf Pflanzenbasis), ein Projekt ihrer Mutter, und ähnliche Initiativen. Bei Kampagnen zur Aufdeckung von eklatanten Missständen, wenn neugeborene Kälber von den Zitzen ihrer Mutter weggetreten werden, vergisst sie auch schon mal das Flüstern und wird deutlich. Außerdem ist sie eine der Unterzeichnerinnen des offenen Briefes von »Artists for Ceasefire« an Präsident Joseph Biden, der eine »sofortige Deeskalation« und »einen Waffenstillstand in Gaza und Israel« (Originalformulierung) fordert.

Mehr solche Rolemodels, weniger (Penis)kanonenfutter!

Billie Eilish wurde in eine irischstämmige Künstlerfamilie in Los Angeles geboren und veröffentlichte ihren ersten Song bereits mit 14 Jahren. Mit 17 das Debütalbum, alles mit Unterstützung des älteren Bruders Finneas, der, wie berichtet wird, schlecht singt, dafür aber alles andere offenbar extrem richtig macht. Billies Stimme reicht für beide, seit Marilyn hat keine mehr so mädchenhaft gehaucht, ihr heller Sopran kann auf den höchsten Ästen zwitschern, verstohlen flüstern und jäh brechen.

Nach zahlreichen Grammys und zwei Oscars für beste Filmsongs (»James Bond« 2022 und »Barbie« 2024) wird auch das neueste Werk der Geschwister O’Connell hoch gehandelt und ganz sicher ebenfalls zum großen Erfolg. Ein wirklicher Knaller, wie »Bad Guy« vom Debütalbum, das sich mit Bassline und düdeldum ins Hirn dreht, ist eher nicht dabei, der bereits erwähnte frischfröhliche Mädchenvernascher »Lunch«, das drumbetonte, zirkusartige »The Diner«, aber auch das melancholisch-melodische »Blue«, die letzte Nummer des Abends, haben am ehesten Hitqualitäten.

Tempowechsel, gern auch mehrfach, und überraschende Outros, das ist alles kreativ und tadellos gemacht. Ein wenig zu unaufregend, ein Hauch zuviel Barmusik. Aber dann, »The Greatest«, erinnert mich in seiner Hoffnungslosigkeit an das wunderbare »Rannersdorf« der Wiener Musikerin Birgit Denk. Und im abgedunkelten Zimmer liegt mein 18jähriges Ich und hört Leonard Cohen – »Hit Me Hard and Soft« könnte eine Alternative für die Gen Z sein.

Billie Eilish Pirate Baird O’Connell – was für ein Name! Warum Eilish, why not Billie Pirate? Das Albumcover zeigt die Künstlerin in dunklen Fluten treibend, eine Tür, ein Licht, eine Zuflucht? Traurige kleine Meerjungfrau oder doch kühne Seeräuberin?