»Herbarium« – eine musikalische Kunstsammlung von Paul Plut
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Die zum Sterben schöne Welt
»Herbarium« – eine musikalische Kunstsammlung von Paul Plut
Von Eileen Heerdegen
Auf der kargen Wiese der Hohen Wand, zwischen Schneeresten und Maulwurfshügeln, mit dem weißen Leinenhemd traditioneller Volksmusiker, mit langem Mantel mit Samtkragen, der gut ins 19. Jahrhundert gepasst hätte, mit seinem üppigen Schmuck, seinen silbernen Fingerkuppen und seiner elektrisch verstärkten Akustikgitarre, aber unübersehbar von heute, steht Paul Plut im handgemachten Livevideo zu »Luft« wie ein Mahner, der weit übers Tal hinaussehen kann.
Laute, die an vorsichtiges Jodeln erinnern, ein Text, der von Abschied und Anfang erzählt, vielleicht vom Frühling, vielleicht vom Leben – die 11 Minuten 28 Sekunden über weite Strecken ein Instrumental, auf der erweiterten Partitur Angaben wie: »Elf Rosenkränze verknüpfen, wie Shaker spielen, zwei Hände voll Erde auf großem Trommelfell auf- und abrieseln lassen« und mit Wiederholungen per Diktaphon und Telefonmikro spielt. (Alles informativ auf paulplut.com dokumentiert.)
Nach seinem wunderbaren letzten Album, »Ramsau am Dachstein nach der Apokalypse«, hat Paul Plut zwei Jahre lang Ideen, Pflanzen, Gefühle und Erfahrungen gesammelt. So entstand ein handgebundenes Buch, das ebenso wie eine Musikkassette (!) mit einem Downloadcode daher kommt, der als kostengünstige Version auch pur erhältlich ist. In dieser Sammlung befinden sich ebenso Musikstücke, die nicht von Plut sind, z.B. »Wo einmal nichts war« (Hildegard Knef/Charly Niessen) oder »Devil Town« des amerikanischen Musikers und Multitalents Daniel Johnston, der mit selbst aufgenommenen Kassetten bekannt wurde und zeitlebens unter psychotischen Zuständen litt. Während das Original eine fast kindliche Unbekümmertheit ausstrahlt, gewinnt der Song durch Paul Pluts unverwechselbare Stimme mit ihrer brüchigen Kraft eine ganz neue Qualität.
»Für mei Familie würd i ois toa / I erschrick bei dem Gedanken«, fast geflüstert, ob der fatalen Konsequenz dieser Aussage, dem unauflösbaren Widerspruch – dieser Satz aus »Zur gleichen Zeit« hat mich so berührt, dass ich live womöglich die Bühne gestürmt und den Musiker heftigst umarmt hätte. Mit solchen Menschen könnte die Welt vielleicht doch nicht untergehen. »Du zynische, vafluachte, zum Sterben schene Wöt / Wo i abstamm, abstumpft, vergiss, mi arrangier, verlieb.«
Ein großer Künstler, einzigartig und schwer einzuordnen. Regional geprägte, rohe Volksmusik oder doch eher Weltmusik mit hohem musikalischem Anspruch. Standarddeutsch sprechende Menschen (alle anderen natürlich auch) können die Texte auf Pluts Website nachlesen, es lohnt sich.
Ganz ungewöhnlich innerhalb dieser leis-wütenden Sammlung ist ein vertontes Gedicht von Christine Nöstlinger aus ihrem Buch, »Ned, das i ned gean do warat«. Von Plut und der Schauspielerin Barca Baxant gesungen, ist hier ein gemein fröhlich daherkommendes Kinderlied der etwas anderen Sorte entstanden, über die Kinder, die »Gschroppn«, die jede Woche eines aus dem Fenster fallen, weil sie sich »siebzig gnodngrausliche Joa« mit Sitzenbleiben und Arbeitsamt, mit »woglade Gnia und zidrige Hend am Roladoa« ersparen wollen. Das ist Wien, das ist Georg Kreisler, auch das ist Paul Plut.
Paul Plut wurde 1988 in der Steiermark geboren und hat die »bahoate (beinharte) Härtn« mit 18 Jahren nicht mehr aushalten wollen. Gottseidank hat das Leben sich aber an ihm festgekrallt, so wie der gefallene Erzengel Samael, der sich noch im Fallen so ans Firmament geklammert hat, dass seine Tragödie einen Riss und damit unsere Milchstraße hinterlassen hat. Samael, ein Aufständiger gegen Gott, Satan, Magier, Mahner? Ihm gehört der letzte Song dieser Sammlung, ein wilder Countryritt. High Noon – ich hoffe, Grace Kelly ist rechtzeitig zur Stelle, und alles wird gut.
»Mei oazigs Gwehr wor ois Hoiz / Zu Fasching ois Kind / Fuchs und Henn, Halma und Mühle / Korridore auf und zua / zwei Millionen Menschen / Oana druckt an Knopf / A Haus wie unsers geht nieder / acht Stockwerk, 200 Zimmer / Auf jeder Seiten a Balkon.«