Katharina Schüttler im Gerichtsdrama »Prima facie« bei den Hamburger Kammerspielen
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Etwas muss sich ändern
Katharina Schüttler im Gerichtsdrama »Prima facie« bei den Hamburger Kammerspielen
Von Eileen Heerdegen
Am Ende steht Katharina Schüttler, in Boxkampfshorts, nur noch eine Socke, auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele, nach ungleichem Schlagabtausch erschöpft, aber nicht k. o., und sichtlich bewegt von den minutenlangen Standing ovations.
Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand. Dieser bei Juristen beliebte Spruch wird ihnen wahrscheinlich schon in der ersten Vorlesung süffisant lächelnd und zynisch mit auf den Weg gegeben. Selbstverständlich wacht auch vor Gericht kein allwissendes, barmherziges und gerechtes Himmelswesen über uns, über Recht und Gerechtigkeit entscheiden unzulängliche menschliche Götter in schwarz. Oder Geschworene, wie in Australien, der Heimat von Bühnenfigur Tessa Ensler, im besten Fall Menschen wie du und ich, mit Pech einfach leicht beeinflussbare Volltrottel.
Strafrechtsanwältin Tessa, kämpferisch im Edel-Boxer-Outfit, jederzeit auf dem Sprung. Goldmarie im Moschino-Top mit Sprachspielaufdruck »Gilt without Guilt« (Vergoldet ohne Schuld), die sich aus kleinsten Verhältnissen nach oben gekämpft hat und ihren Stolz im goldschimmernden Satinumhang, einem Mix aus Boxermantel und Anwaltsrobe, präsentiert: »Meine letzte Schleife. Dann, PENG!! Ich feuere vier Fragen ab wie Schüsse. Peng. Peng. Peng. Peng. Stille. Die Leute auf der Galerie lehnen sich nach vorn. ›Wow, ist die gut‹.«
»Wir glauben an das Gesetz und das System. Wir glauben an die Unschuldsvermutung.« Und genau um diese Säule des Rechtssystems geht es im Stück und dem juristischen Terminus »Prima facie«. Tatsächlich ein wichtiger Grundsatz, der aber beispielsweise Vergewaltigungsopfern oft die Gerechtigkeit verwehrt. Aussage gegen Aussage, sind Täter und Opfer auch noch miteinander bekannt, hatten womöglich schon einvernehmlichen Sex, wird ein objektiver Beweis immer unwahrscheinlicher.
»Das Fundament einer zivilisierten Gesellschaft. Wenn er das Opfer eines sexuellen Übergriffs befragt – ein vermeintliches Opfer – lässt er sie glauben, er wäre auf ihrer Seite. Er vernichtet sie nie, er lullt sie bloß ein mit seiner Zuneigung und dann analysiert er ihre Antworten.«
Wie ihre Figur Tessa kennt auch Dramatikerin Suzie Miller den Ablauf, als Menschen- und Kinderrechtsanwältin war die Australierin auf Sexualstraftaten spezialisiert. Der Plot um die Staranwältin, die nach durchlittener Vergewaltigung die Seiten wechselt, erscheint ein wenig naheliegend. Doch durch Aufbau und Dramaturgie, den Einblick in Tessas Familienverhältnisse, ihren Aufstieg und schließlich ihre Fassungslosigkeit beim Absturz gewinnt die Story an Tiefe.
»Ich kann mich nicht bewegen. Er ist in mir. Grob und schmerzhaft. Es tut schrecklich weh. Ich spüre, wie ich meinen Körper verlasse. Das hier passiert nicht, passiert gar nicht.« Nach einem schönen Abend, nach zärtlichem Sex, wird Kollege Julian zum Vergewaltiger.
Tessa duscht, will alles wegwaschen, will zu ihrer Mutter flüchten. Sie weiß: »Dieser Fall ist nicht zu gewinnen.« – »Aber ich höre mich sagen: Würden Sie mich bitte zur nächsten Polizeiwache bringen?«
Nur ca. fünf bis 15 Prozent aller Vergewaltigungen werden angezeigt, drei Prozent der Anschuldigungen erweisen sich als falsch, trotzdem werden nur 8,3 Prozent der Beschuldigten verurteilt (Zahlen aus 2012). Das informative Programmheft lässt zwei »HeforShe«-Botschafter der UN Women Deutschland zu Wort kommen, die deutlich machen, dass man(n) nicht primär Gesetze, sondern Perspektiven verändern muss, dass Männer sich als entscheidender Teil des Problems proaktiv gegen ein patriarchalisches System engagieren sollten.
So leidenschaftlich Katharina Schüttler den Siegeswillen der Überfliegerin vermitteln konnte, so schmerzhaft überzeugend ist ihre Darstellung der vollkommenen Hilflosigkeit vor Gericht:
»Nach 782 Tagen, nachdem man mich immer wieder gefragt hat: Sind Sie sicher, dass Sie sich das antun wollen? Nach abfälligen oder verlegenen Blicken auf der Arbeit, den Zweifeln, die Leute über mich geäußert haben. Nach der Befragung, nachdem Untersuchungsinstrumente jeden Millimeter meines Körpers abgetastet haben. Nach all den Albträumen, dem Gekotze, den Selbstzweifeln bin ich hier.«
»Das alles und sie haben mir nicht geglaubt. Ich bin kaputt, weiß nicht, woran ich mich festhalten, wie ich aufstehen soll. Wie ich den Saal wieder verlassen soll. Wie komme ich aus diesem Gebäude?«
»Ich weiß nur, irgendwas muss sich ändern.«