Vergangen, vergessen, vorbei

Fritz Hochwälders antifaschistische Komödie »Der Himbeerpflücker« in den Kammerspielen der Wiener Josefstadt

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»Wir haben dich nicht umsonst Sieglinde genannt, man hat damals gehofft aus heißem Herzen – und dann war alles aus, ein Traum aus Blut und Treue …«, so Bürgermeister Steisshäuptl zu seiner Tochter, die derweil am Wurlitzer herumdrückt.

»Vergangen, vergessen, vorbei« singt Freddy Quinn, und er passt augenfaustmäßig in die Musicbox des 60er-Jahre-Provinzgasthauses, stammt er doch keineswegs von der Waterkant, wie oft vermutet, sondern aus Niederfladnitz in der österreichischen Einöde des Waldviertels.

Wo genau »Der Himbeerpflücker« des Wiener Dramatikers Fritz Hochwälder (1911–1986) gewütet hat, bleibt offen, das fiktive Bad Brauning steht stellvertretend für grauenvolle Orte von Folter und Vernichtung. Der Lagerkommandant liebte es, Gefangene beim Himbeerpflücken zur Gaudi in den Büschen abzuknallen – ganze 8.000 Opfer, die ehemaligen Parteigenossen erwähnen es nicht ohne Anerkennung.

Später wollte man so etwas lieber vergessen: »Es muss endlich mal Schluss sein«, der Lieblingssatz vieler Eltern, Groß- und Urgroßeltern, bezieht sich leider nicht auf eine Aufarbeitung der Schuld, sondern allein auf die Generalamnestie für Täter und ihre Verbrechen. Schon 1949 waren »minderbelastete Nationalsozialisten« im »Verband der Unabhängigen« (VdU), einem Vorläufer der FPÖ, wieder wählbar – durchaus erfolgreich.

Hochwälder, gelernter Tapezierer aus einfachen Verhältnissen, als Jude und Sozialist verfolgt, gelang 1938 die Flucht in die Schweiz, die Eltern wurden 1942 deportiert und ermordet. Im selben Jahr wurde das erste Theaterstück des Autodidakten, der sich in philosophischen und literarischen Volkshochschulkursen weitergebildet hatte, am Züricher Schauspielhaus aufgeführt. In den 50er und 60er Jahren schrieb Hochwälder für die Salzburger Festspiele und war beliebter Autor des Burgtheaters, 1965 wurde dort »Der Himbeerpflücker« mit Helmut Qualtinger in der Hauptrolle uraufgeführt.

Das war zwei Jahre nachdem Franz Murer, bekannt als »Schlächter von Wilna«, einen Freispruch erlangt hatte. Das Programmheft listet viele Ereignisse auf, die zeigen, warum Hochwälder (und Schicksalsgefährten) gegen das Vergessen anschrieben, und warum bis heute leider nichts vorbei ist.

Konservativer Stil, klassische Dramaturgie, ein böses Volksstück mit sehr komischen Slapstickeinlagen, die Kunst, über das Böse lachen zu können, ohne mitzulachen, wird hier exemplarisch vorgeführt. Der Plot ist schnell erzählt: Bürgermeister, Wirtshausinhaber und Eigner der halben Stadt ist der ehemalige NSDAP-Ortsgruppenleiter Steisshäuptl, dessen Macht und Reichtum auf Kisten voller Zahngold beruhen, die der »Himbeerpflücker« bei seiner Flucht zurückließ. Steisshäuptls Bediensteter Zagl (urkomisch Claudius von Stolzmann als Hanswurst) hatte dabei die Hand im Spiel und somit genauso Dreck am Stecken wie die »alten Kameraden« Dr. Schnopf, (Euthanasie im Altenheim), Schuldirektor Huett (Menschenjagd), Baumeister Ybbs, Fabrikdirektor Stadlmeier und schließlich der Postenkommandant, der am Massenmord in Wilna beteiligt war. Als ein Fremder in den Ort kommt, geht das Gerücht, es handle sich um den Himbeerpflücker, es beginnt ein Verwechslungs- und Intrigenspiel. Der Fremde ist aber nur ein Juwelendieb auf der Flucht, der seine Schuld am Schluss lieber zugibt, als für einen Massenmörder gehalten zu werden. Am Ende bleibt alles beim Alten, und die klammheimliche Bewunderung für den Schlächter wandelt sich in Empörung über den gemeinen Dieb.

Trotz einiger Längen eine sehr gelungene Inszenierung mit einem hochkarätigen, spielfreudigen Ensemble. Zum Lachen ins Theater, statt in den Keller zu gehen, ist nicht verwerflich, zumal, wenn es – um einen alten 68er zu bemühen – der Wahrheitsfindung dient. In einer Zeit, in der eine von rassistischen Stereotypen geprägte Migrationspolitik ausgerechnet damit begründet wird, keine Antisemiten ins Land holen zu wollen, schadet es nichts, daran zu erinnern, wer tatsächlich für den Holocaust verantwortlich ist.