Das Unerledigt-Menschliche: Wolf Haas’ Roman »Eigentum« ist ein zärtliches Abschiedsgeschenk an einen schwierigen Menschen
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»Bes auf mi – Bes auf mi, Mutti?«
Das Unerledigt-Menschliche: Wolf Haas’ Roman »Eigentum« ist ein zärtliches Abschiedsgeschenk an einen schwierigen Menschen
Von Eileen Heerdegen
»Ich sehe aus wie ein Krokodil.« Meine ohnehin kleine Mutter war schließlich so geschrumpft, dass nur noch Falten übrig waren. Ist das alles, was bleibt? Von einem langen Leben, von einem Berg voller Hoffnungen und Wünsche? Statt des erträumten Schrebergartens gab es immerhin »Ich bete an die Macht der Liebe« als Trompetensolo zum Einzug in die letzte Heimstatt.
»Di reder dreyen zikh, di yorn geyen zikh« – so wie die Holzräder ihres Vaters (ein Wagnermeister!) ein exaktes Zentrum brauchten, haben sich die Jahre für Marianne Haas zielgenau auf ihr spätes »Eigentum« eingedreht. Auch der Mutter des Schriftstellers Wolf Haas sind nur 1,7 Quadratmeter vergönnt (trotz »sparen, sparen, sparen«), allerdings in allerbester Lage, in der Mitte des Friedhofes, im Zentrum des Ortes, der in der Mitte des Landes liegt, und doch in the middle of nowhere. Statt der Blasmusik (besonders beliebt das Flügelhorn mit »Ich hatt’ einen Kameraden«) gibt es hier traditionell für die Frauen nur einen »Klageweiber«-Sopranistinnenchor, deren »hohe Frequenzen eigentlich nur ein Hund hören kann«.
Die zehn Kriminalromane von Wolf Haas mit und ohne Kommissar/Detektiv Brenner (in den Verfilmungen kongenial von Josef Hader verkörpert) könnte man Kult nennen, wäre dieser Begriff nicht viel zu blöd für die verschrobenen, sprachlich und konzeptionell sehr eigenen und in mehrfacher Hinsicht ausgezeichneten Meisterwerke. In jedem finden sich kleine, geniale Einfälle, wie etwa die Klingelschildidee in »Wie die Tiere«, die ich nicht verspoilern werde. Lesen!
Auch weitere Erzählungen des österreichischen Autors (»Das Wetter vor 15 Jahren«, »Die Verteidigung der Missionarsstellung«, »Junger Mann«) sind weit entfernt vom Mainstream, jedes sehr individuell und trotzdem immer Wolf Haas. »Junger Mann«, der »Coming of Age«-Bericht eines dicklichen Buben mit permanent eingestreuten Kalorienangaben, hatte bereits autobiographische Züge, das aktuelle Buch zeigt schon mit dem Wortspiel auf dem Cover, wie privat es ist: »Eigentum von Wolf Haas«.
Die 95jährige Mutter im Altersheim bittet den Sohn, ihre Eltern anzurufen, zu sagen, es ginge ihr gut. »Mein ganzes Leben hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut geht.«
»Beim Stehen wie ein Stein am Grab fiel mir ein, worum es bei der Schriftstellerei ging. Vielmehr: Es fiel mir auf. Wie auf einem Grab steht dein Name auf dem Buch. Darum ging es beim Schreiben. Dass man es zusammengeschrieben hat. Das ganze Leben nur schreiben schreiben schreiben. Nichts wie tippen tippen tippen die ganze Zeit. Aber dann steht dein Name drauf. Dann kann dich keiner mehr verjagen.«
So ist das Buch ein Denkmal für eine bemerkenswerte Frau, die verbissen gearbeitet, nie aufgegeben hat. Vom ausgebeuteten Kind zur Servierhelferin, im Selbststudium Bildung, Fremdsprachen, Maschineschreiben angeeignet, sich im Krieg und danach tagelang zu Fuß durchgeschlagen – eine sehr einsame Kämpferin. »Sie konnte ein Tablett mit zehn vollen Bierkrügen auf einer Hand in einen Gastgarten tragen, aber sie konnte nicht mit den Leuten.«
Und immer wieder die Inflation als Thema, das schon dem Dreijährigen nahegebracht wird – das Leiden als innere Bühne, für Angehörige eine schwere Prüfung. So beschreibt der Sohn mit deutlichem Respekt eine Tragödie, die auch ihn betrifft. Kein heiteres, aber ein sehr komisches Buch, voller (Sprach-)Witz, skurriler Anekdoten und typischer Gedanken und Figuren aus dem Haas-Universum.
Wie etwa die Nachhilfeschülerin der Mutter (so weit hatte Marianne es tatsächlich gebracht), die auf die Frage nach den größten Giften der Menschheit, A … und N … ergänzen soll. »Statt Alkohol und Nikotin hatte die als blitzdumm geltende Schülerin ausgefüllt Atmung und Nahrung. Und das schon in den Siebzigerjahren, wo noch die wenigsten so weit dachten! Sie hätte die Schule überspringen und gleich beim Club of Rome anfangen können.«
Später noch ein Foto mit der Frau, die ihr Gesicht aus Familienfotos geschnitten hat, weil sie ihrer Meinung nach komisch geschaut hat: »Von Pfeilen der Erinnerung durchbohrt sitzen wir da und seufzen. Wir sind beide sehr alt. Ich mache ein Selfie von uns. Wir sehen aus wie der geistesgestörte Künstler August Walla und seine Mutter.«
Es bleibt der Wunsch, dass einem beim Gitarrespielen im Gedenken an die Mutter doch eher »Bésame mucho« einfällt und nicht »Bes auf mi – Bes auf mi, Mutti?«