»Mein Name sei Gantenbein« – Solo für Matthias Brandt am Berliner Ensemble
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Von Einsamkeit und Sehnsucht
»Mein Name sei Gantenbein« – Solo für Matthias Brandt am Berliner Ensemble
Von Eileen Heerdegen
Ausgerechnet auf dieser Bank am Dorotheenstädtischen Friedhof, wenige Meter entfernt von Brechts Grabstätte, zusammenzubrechen, eventuell mit großem Tamtam und Tatütata abtransportiert zu werden, hätte etwas übertrieben Theatralisches gehabt. Lächerlich vielleicht sogar und vollkommen unpassend sowieso, nachdem ich so viele Stunden unbarmherzig sonnengestrahltes, gluthitziges 34-Grad-Celsius-Berlin durchwandert und durchgehalten hatte, seit mich der seit Monaten einzige pünktliche ICE schon am grellen Vormittag fast direkt in die schweißnassen Arme des unter den Linden joggenden Dr. Drosten gekippt hatte.
Und alles ohne Sonnenbrille, ich hätte blind werden können. So wie Gantenbein. Ich war 13, als ich ihn kennenlernte, auch damals war es ungewöhnlich heiß, ich konnte mir die verbrannte Haut vom Rücken abziehen, weil ich vergessen hatte, aus der Sonne zu gehen, fasziniert von dieser Geschichte eines vorgeblich Blinden, die es wahrscheinlich über die Pflichtabnahmen der Büchergilde Gutenberg ins Regal meiner Eltern geschafft hatte.
»Hier ist es wie in Pompeji. Alles noch vorhanden, bloß die Zeit ist weg.« Ich habe das Buch nie wieder gelesen, wird mich der Text heute enttäuschen? Ich muss es wissen, ich darf nicht aufgeben. Glücklicherweise bietet der Friedhof »Unter dem Maulbeerbaum« reizende »soziale Begegnungen« und Hilfe für dehydrierte Touristinnen.
Matthias Brandt muss den Tag in der Kältekammer verbracht haben, ungerührt steht er mit Shirt, Hemd, Pullover, Trench und Hut auf der zu einer Art 60er-Jahre-Palisander-Guckkasten umgestalteten Bühne des Berliner Ensembles, die mit einem extrem grellen Neonrahmen ziemlich augenunfreundlich an das zentrale Thema des Abends erinnert.
»Ich stelle mir vor: Ein Mann hat einen Unfall, Schnittwunden im Gesicht. Es besteht keine Lebensgefahr, nur die Gefahr, dass er sein Augenlicht verliert. Er liegt im Hospital mit verbundenen Augen, lange Zeit … Eines morgens wird der Verband gelöst, und er sieht, dass er sieht. Aber er schweigt, sagt es nicht, dass er sieht. Niemand und nie. Ich stelle mir vor: Sein Umgang mit Menschen, die nicht wissen, dass er sie sieht … Seine Freiheit kraft eines Geheimnisses. Sein Name sei Gantenbein.«
Camilla Huber, Visitenkärtchen mit Büttenrand. Nachbarin, Gelegenheitsprostituierte, offiziell Maniküre. »Man kann einen Blinden nicht hinters Licht führen.« Gantenbein kann beobachten, nicht wie ein Spanner, er kann die Frau sehen, wie sie sein möchte.
Matthias Brandt sagt im GQ-Interview, er sei »permanent im Beobachtungsmodus«. Wer sein Romandebut »Raumpatrouille« gelesen hat, weiß, wie exzellent, komisch und anrührend seine erinnerten Beobachtungen aus den frühen Jahren eines einsamen Kindes sind.
Beobachten ist einsam, wer beobachtet, ist außen. »Mein Name sei Gantenbein« wird als das Spiel mit wechselnden Identitäten bezeichnet. Und in der Tat kann man hier Richard David Precht mit »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele« zitieren, der erdachte Gantenbein muss sich die spätere Geliebte und Ehefrau Lila (mindestens) noch mit den ebenfalls phantasierten Herren Enderlin und Svoboda teilen. Macht nichts, denn auch Lila existiert nicht. Für mich ist dieses großartige Werk vor allem die Beschreibung völliger Einsamkeit.
Es beginnt mit einem Ende: »Eine Wohnung. Lang kann’s nicht her sein, seit hier gelebt worden ist. Reste von Burgunder in einer Flasche. Inselchen von Schimmel auf dem samtroten Wein. Und in einer Schüssel schwimmt noch ein trüber Rest von Kompott. Aprikosen-Schlamm. Ferner eine Dose mit Gänseleber. Wegzehrung für eine Mumie.«
Max Frisch hat dieses Buch Anfang der 60er Jahre in Rom geschrieben, oder zumindest begonnen. Es war seine Zeit mit Ingeborg Bachmann, sie war dort zuhause, er war fremd. Er blieb fremd. Vielleicht existierte Lila doch – Ingeborg Bachmann fühlte sich in dieser Figur später ertappt, diskreditiert, gar vernichtet. In Rom wurde sie gefeiert, ging aus, er hämmerte zuhause in die Schreibmaschine. Er war rasend eifersüchtig. Das Buch wurde ein Abschied.
Die Sehnsucht geht zuerst. »Ihr sehnt euch. Nicht nacheinander, denn Ihr seid ja da. Ihr sehnt euch über einander hinaus.« Max Frisch muss wütend gewesen sein, verzweifelt, selbstmitleidend. Die Inszenierung von BE-Intendant Oliver Reese lässt diesen Gefühlen Raum, Matthias Brandt wechselt von Nonchalance zu Raserei, die Illustration des berühmten Satzes, »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«. Was für eine Kraft. Ein Erlebnis. 100 Minuten allerhöchste Schauspielkunst.
Der Text beginnt mit dem Tod und endet mit dem Leben: »Alles ist wie nicht geschehen. Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten. Und doch. Wind in den staubigen Disteln. Das Herbstmeer. Mittag. Alles ist Gegenwart. Schlangenhitze trotz Wind. Aber Gegenwart. Und wir sitzen an einem Tisch im Schatten und essen Brot, bis der Fisch geröstet ist. Ob der Wein – Verdicchio – auch kalt ist? Durst, dann Hunger. Leben gefällt mir.«