Uraufführung von Daniel Kehlmanns „Nebenan“ im Wiener Burgtheater
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Es ist Krieg
Uraufführung von Daniel Kehlmanns »Nebenan« am Wiener Burgtheater
Von Eileen Heerdegen
Karl Lauterbach reißt sich kurz die Maske vom Gesicht und erklärt den Kriegsfall. Der hieß früher mal Verteidigungsfall, und eigentlich stimmt das auch gar nicht, aber zumindest im Userforum der (ehemals) linksliberalen österreichischen Tageszeitung Der Standard wäre der Fauxpas des deutschen Gesundheitsministers mehrheitsfähig. Dort wird von stahlharten Eiern geschwärmt und debattiert, ob es besser sei, herzkranke russische Kinder per Medikamentenembargo verrecken zu lassen (in der Ukraine sterben schließlich auch Kinder – hallo?) oder ob die nukleare Zerstörung der Hauptstadt nicht sinnvoller wäre. Natürlich nicht unserer Hauptstädte, und da sind wir doch sehr froh, dass zumindest die deutsche Verteidigungsministerin auf die fast nebenbei gestellte Frage des Frühstücksfernsehmoderators bestätigt, auf einen Atomschlag vorbereitet zu sein.
Kriegsvorbereitungen auch auf der Bühne des Wiener Burgtheaters am Abend des 15. Oktober. Trügerisch heimelig wirkt die Versuchsanordnung aus liebevoll detailliert angeordneten Versatzstücken einer echten Altostberliner Kneipe. Nur das ebenfalls trügerisch im Fröhlichkeitsrhythmus daherstampfende Lied aus dem Radio deutet die sich anbahnende Katastrophe an: »Mein Herz es brennt, wenn ich dich seh’ / Auch wenn ich heut’ durch die Hölle geh’ …«
Noch herrscht vor allem Trostlosigkeit im Etablissement »Zur Brust«. Die möglicherweise namengebende Wirtin putzt das Klo, ein Bürger am Tresen wütet noch stumm in sich hinein. Noch hat uns die Hölle nur musikalisch gestreift, die Regie lässt dem Publikum viel Zeit, vielleicht einen Tick zuviel, sich in die Szenerie fallen zu lassen. Endlich stakst Katharina Pichler in vollkommen gehuntauglichen Plateaustiefeletten hinein (gelegentliches Umknicken inbegriffen), im Lederrock, ansonsten tattoofreundlich knapp gekleidet. Als dralle Herrin über Raum und Gäste authentisch und komisch bis in die gelben Gummihandschuhfingerspitzen.
Auftritt Bruno. Einer, der die Hölle bereits kennengelernt hat. Einer, der in der DDR Stasikontakt hatte (Täter oder Opfer?), als Musiker gescheitert, die Arbeit verloren. Einer, der den parkinsonkranken Vater aufnehmen musste, weil dessen Dachgeschossbruchbude für neue Eigentümer luxussaniert wurde.
Auftritt Florian. Einer, der heute in die Hölle geschickt werden wird. In der Filmfassung, die der Theaterbearbeitung zugrunde liegt, hieß er Daniel, wie Brühl, der nicht nur die Rolle spielte, sondern auch für Regie und Drehbuch (mit-)verantwortlich ist. Daniel war Wessi, Florian, wie Teichtmeister, ist entsprechend aus Wien zugezogen. Ein Schauspieler mit genügend Geld für das Loft, das mal Heimat für Brunos Vater war.
Das ahnt er aber nicht und ist zudem ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Gleich wird er nach London zum Casting fliegen, versucht noch fieberhaft, mehr Infos zur Rolle zu bekommen.
Bittet Bruno um ein Autogramm? Unklar, er hat weder Stift noch Papier. Möchte Florian nicht einfach nur gebeten werden? Seine vielen fast verzweifelt klingenden Telefonate (auf englisch – bitte unbedingt übertiteln!) inklusive Magnum-Serienmusik-Klingelton lassen ihn eher als drittklassig als Bittsteller denn als erfolgreichen Mimen erscheinen.
Auf jeden Fall ist er nicht schuld an Brunos Misere, und doch hat dieser irgendwann beschlossen, ihn zu vernichten, zu zerstören. Norman Hacker spielt den Stalker, der sein inneres Brodeln komplett unter einer vorgetragenen Überheblichkeit versteckt, enorm glaubhaft und mehrdimensional. Florian Teichtmeister ist ein ebenbürtiger Gegenspieler, ein Mensch, der, zwischen Höflichkeit, Wut und Verzweiflung schwankend, alle Sicherheiten verliert.
Am Ende wird seine Welt in Scherben liegen. Apropos – schon in den 1970ern besangen »Ton Steine Scherben« das, was wir heute Gentrifizierung nennen. Ist also überhaupt nichts Neues, und die geäußerte Kritik, in Österreich könne man die Problematik der deutschen Wiedervereinigung nicht verstehen, kenne den Ossi-Wessi-Konflikt nicht, geht am Thema vorbei. Verlierer und Gentrifizierung gibt es in Hamburg und Wien genauso. Es wird nicht jeder zum Psychopathen, aber der Krieg ist doch längst in uns angekommen.